Im Herbstsemester 2020 bekleidete ich die ZAZH-Gastprofessur (Junior) an der Universität Zürich und hatte so Gelegenheit, ein Semester lang im interdisziplinären Umfeld des ZAZH zu lehren, zu forschen und meine Arbeit einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Die Einladung erreichte mich in NYC. Noch am selben Tag konnten wir in Harlem auf den Erfolg anstoßen. Wie wichtig der Aufenthalt am ZAZH für meine Arbeit und für meine Liebe zur Antike werden würde, habe ich damals aber noch nicht geahnt. Zum einen war das Semester außerordentlich produktiv, was an den anregenden Veranstaltungen und dem vielfältigen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen lag. Zum anderen hat das lebendige Interesse an der Antike, das mir am ZAZH nahezu täglich begegnete, sowie die konstruktive und enthusiastische Diskussionskultur meine eigene Begeisterung wiederbelebt. Nach vier Monaten in Zürich bin ich mehr denn je überzeugt, dass die Auseinandersetzung mit der Kultur, Geschichte und Philosophie des antiken Mittelmeerraums eine große Bereicherung darstellt, nicht nur für uns Lehrende und unsere Studierende, sondern auch für eine breitere Öffentlichkeit.
ZAZH-Lecture
Ich arbeitete zunächst an meiner öffentlichen ZAZH-Vortrag zum Thema „Sprengkraft für den politischen Zusammenhalt – Platon und Aristoteles über Probleme der Reichtumsverteilung“. Nach gängiger Ansicht gibt es in der griechisch-römischen Antike generell wenig Interesse an Armut, noch weniger an staatlicher oder individueller Armenhilfe. Diskurse um Hilfspflichten und Almosen gelangten nach dieser einflussreichen Einschätzung erst in der Kaiserzeit und Spätantike durch den Einfluss des Judentums und die Verbreitung des Christentums in den griechisch-römischen Kulturraum. Ein genauer Blick auf die Texte zeigt allerdings, dass sich diese Sichtweise mit Blick auf Platon und Aristoteles nicht halten lässt. Einerseits sprechen sich beide Autoren für staatliche Armenhilfe aus. Doch zu meiner eigenen Überraschung finden sich bei beiden Autoren auch individualethische Argumente: Wer ein guter Mensch sein will, sagt Platon an einer Stelle, sollte darauf achten, dass niemand in seiner Gemeinschaft unter die Armutsgrenze fällt. Die Diskussion nach meinem Vortrag war für meine weitere Arbeit an diesem Projekt extrem informativ; insbesondere die Hinweise von Kollegen aus der Geschichtswissenschaft haben mir geholfen, die philosophischen Analysen in ihren historischen Kontext einzuordnen. Die Analyse philosophischer Argumente aus der Antike profitiert insgesamt von einer interdisziplinären Perspektive, doch gerade mit Blick auf das von mir gewählte Thema ist der Abgleich mit anderen Altertumswissenschaften essentiell.
Seminar zu Platons Politeia
Im Zentrum meines Semesters in Zürich stand mein Seminar zu Platons Politeia, an dem 20 Teilnehmer:innen aus unterschiedlichen Fächern teilnahmen. Wir konzentrierten uns insbesondere auf die politische Dimension des Werkes. Viele Diskussionen haben mein eigenes Verständnis von Platon neu vertieft. Kontrovers diskutierten wir insbesondere die Frage, ob es wirklich begrüßenswert wäre, die politische Macht den Philosophinnen und Philosophen aus Platons Idealstaat zu überlassen. Platon begründet die Forderung nach einer Philosophenherrschaft an einer Stelle mit dem berühmten Schiffsgleichnis: Ein Schiff sollte am besten von fachkundigen Menschen gesteuert werden, die wissen, wie man mithilfe der Sternbilder Kurs hält; ebenso sollte der Staat von Menschen geführt werden, die durch ihr philosophisches Wissen einschätzen können, was objektiv für alle gut ist. Aber dieses Gleichnis überzeugt nur, wenn man Platon zustimmt, dass das objektiv Gute ein Gegenstand von Erkenntnis sein kann. Hannah Arendt wendet gegen Platon ein, dass Politik generell kein Erkenntnisproblem sei, sondern Verhandlungsraum. Platon schaffe durch die Philosophenherrschaft die Möglichkeit ab, miteinander zu verhandeln, und eliminiere dadurch den Raum des Politischen. Trotz dieses gewichtigen Einwands haben wir festgestellt, dass es schwer ist, sich Platons Theorie zu entziehen, wenn man sich einmal auf seine Fragestellung eingelassen hat.
Eine Diskussion, die mir in Erinnerung blieb, betraf das Ende von Buch IX, wo Platon seine psychologische Theorie nochmals mithilfe eines Bildes erläutert: Den rationalen Teil der Seele vergleicht er mit einem Menschen, den muthaften Teil mit einem Löwen, und den untersten, triebhaften mit einem Ungeheuer. Eine Studentin wies darauf hin, wie erstaunt sie sei, dass Platon diesen Seelenteil, in dem auch unsere biologischen Bedürfnisse angesiedelt sind, mithilfe eines übernatürlichen Wesens darstellt. Meint Platon, dass unsere Triebe und Begierden gar nicht Teil unserer eigentlichen Natur und uns letztlich sogar fremd sind? Über diese Frage habe ich im Anschluss immer wieder nachgedacht. Wenn wir in der Antike den Rat finden, dass wir „unserer Natur“ treu bleiben sollen, ist jedenfalls nicht gemeint, dass wir unseren Körpern blind vertrauen sollen; die Natur, der wir folgen sollen, ist bei Platon unsere Vernunft.
Zu meiner eigenen Überraschung entdeckte ich, dass der Soziologe, Historiker und Bürgerrechtsaktivist W.E.B. du Bois in seinen Überlegungen von Platons Politeia beeinflusst war, was sich insbesondere in seinem Traktat The Talented Tenth bemerkbar macht. Offenbar war die Platon-Rezeption bei du Bois auch für die Studierenden interessant; viele griffen in ihrem abschließenden du Bois’ Essay auf. Die Rezeption der griechisch-römischen Antike unter afroamerikanischen Autoren, insbesondere unter Bürgerrechtsaktivisten, würde ich gerne in meiner künftigen Forschung weiter erkunden.
ZAZH als Verbindung zwischen Universität und Öffentlichkeit
Insgesamt habe ich in meiner Zeit am ZAZH meinen Arbeitsschwerpunk – die Philosophie der griechisch-römischen Antike – neu schätzen gelernt. Dies lag sicherlich auch an den zahlreichen Veranstaltungen, in denen das ZAZH das Gespräch mit der Öffentlichkeit aller Generationen herstellt – in Salon-Gesprächen des Sokrates-Clubs, im Money Museum, bei öffentlichen Vorträgen und Podien, die professionell gestaltet als Videos online verfügbar sind, oder mit Schülerinnen und Schülern bei den Ferienkursen. Ein Höhepunkt meines Semesters am ZAZH war sicherlich auch das Podium mit Dr. hc. mult. Roger de Weck zum Thema Demokraten, Populisten und Tyrannen. Auch dieses Gespräch ermutigte mich weiterhin dazu, Antike Stimmen auch in den gegenwärtigen Diskurs einzubringen.
Durch das Interesse der Öffentlichkeit wurde mir erneut bewusst, wie sehr sich die Auseinandersetzung mit der Kultur des antiken Mittelmeerraums lohnt. Zudem konnte ich während des Semesters viele meiner Arbeitsschwerpunkte anbringen – mein Interesse an Platon ebenso wie meine Überlegungen zu Aristoteles’ Ontologie und Biologie, die ich insbesondere mit Benedetta Foletti diskutieren konnte, und zuletzt meine Arbeiten zur Stoischen Philosophie, zu der ich im Dezember von Barbara Bleisch im Schweizer Fernsehen interviewt wurde.
Zürcher Gastfreundschaft
Ich bin am ZAZH und auch als Gast des Seminars für Griechische und Lateinische Philologie äußerst herzlich willkommen geheißen worden und war beeindruckt davon, wie professionell und freundlich mein Aufenthalt gestaltet wurde. Barbara Sigrist, Fabian Zogg, Benedetta Foletti, Michèle Hegi, Cornelia Ritter-Schmalz, Ulrich Eigler, mein Büro-Kollege Florian Sommer, Camille Semenzato und viele andere haben dafür gesorgt, dass ich mich von Anfang an überall gut zurecht fand und mich zuhause fühlte. Ein besonderes Glück bestand darin, dass zumindest zu Beginn des Semesters noch einige Veranstaltungen in Präsenz stattfanden und ich viele Studierende, Kolleg:innen, und sogar einige Mitglieder des Sokrates-Club persönlich kennen lernen konnte.
Ich danke allen Mitarbeiter/innen, Stiftungen und Privatpersonen, die durch ihre Arbeit oder großzügige Spenden meinen Aufenthalt am ZAZH finanziell und organisatorisch ermöglicht haben. Mein besonderer Dank gilt meinen beiden Gastgebern Christoph Riedweg und Andreas Victor Walser für die Einladung, den überaus herzlichen Empfang und die guten Gespräche. Ich werde von den vier Monaten am ZAZH noch lange zehren und ich freue mich auf meinen nächsten Besuch in Zürich!
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